Viele Eltern wünschen sich auf diese Frage ein minutenscharfes Rezept. Eine Empfehlung wie täglich maximal 20 Minuten für Vierjährige, 30 Minuten für Fünfjährige und 45 Minuten für Sechsjährige kann man aussprechen. Sie ist aber weder seriös noch sinnvoll. Was aber muss bedacht werden, um der Sache gerecht zu werden? Aber wie müsste es differenzierter betrachtet werden? Vielleicht so:
Ein plakativer Vergleich
Eine Stunde Waldspaziergang: Bei einem Waldspaziergang ist unser Bewegungsapparat leicht herausgefordert. Dass Bewegung gut für uns ist, ist ohnehin unstrittig. Gleichförmige Bewegungsroutinen ergeben sich im Wald eher nicht. Es gibt einen unebenen Boden, Pflanzen ragen in den Weg. Das bedeutet, wir müssen unser Gang koordinieren, immer mal wieder Hindernissen ausweichen und Unebenheiten ausgleichen. Das ist keine riesige Herausforderung, aber eine Herausforderung. Gleichzeitig erhält unser Wahrnehmungsapparat jede Menge Input: Da gibt es Gerüche, visuelle Eindrücke und Geräusche, die unser Gehirn aufnimmt und verarbeitet. Und zwischendurch gibt es durchaus auch mal Fragen: Wie heißt dieses Tier? Wie heißt diese Pflanze? Welche Abzweigung soll ich nehmen?
Eine Stunde Fernsehen: Vor dem Fernseher gibt es ein Minimum an Bewegung. Vielleicht muss die Sitzposition hier und da korrigiert werden, damit es bequem ist. Vor dem Fernseher wird auch der Wahrnehmungsapparat nicht gefordert. Die audiovisuellen Eindrücke erarbeite ich mir nicht. Ich lausche nicht in eine Richtung und drehe auch nicht den Kopf. Ich bin nicht umgeben von Eindrücken, sondern habe sie in einem Kasten. Kurzum: Die Herausforderung für den Wahrnehmungs- und Bewegungsapparat ist sehr gering.
Die kindliche Entwicklung
Die Entwicklungsprozesse in der frühen Kindheit sind Weichenstellungen für das gesamte spätere Leben. Man könnte auch sagen: Wir werden von früher Kindheit an durch unsere Gewohnheiten geprägt. Oder: Das Gehirn entwickelt sich so, wie wir es benutzen. Was bedeutet das? Unser Gehirn arbeitet in jeder Sekunde unseres Lebens. Und es lernt. Das Gehirn ist ein lebendiges, sich ständig veränderndes Netzwerk. Wenn wir uns viel bewegen, gibt es einen Trainingseffekt. Nicht nur in der Muskulatur und Kondition, sondern auch in unserer „Schaltzentrale“, dem Gehirn. Wenn wir uns mit Bildschirmen auseinandersetzen, geschehen unter anderem zwei Dinge: Unser Körper ist passiv. Wir bewegen uns nicht. Die Wahrnehmungsreize werden reduziert.
Das Lernen am Bildschirm ist ein anderes Lernen. Das Gehirn muss übersetzen. Brücken bauen zwischen dem Medieninhalt und eigenen Erfahrungen. Wenn nach dem Waldspaziergang eine 20-minütige Dokumentation über Eichhörnchen geschaut wird, können vielleicht interessante Gedankenverbindungen entstehen. Aber sind wir ehrlich: So funktioniert Bildschirmnutzung nicht. Es gibt nur ein klares Fazit: Bildschirmnutzung entspricht nicht der Natur des Menschen. Und: Bildschirmnutzung ist eine Zeit, in der Kinder sich nicht den Entwicklungs- und Lernbedürfnissen stellen, die sich aus biologischer Sicht ergeben. Dennoch gehört Bildschirmnutzung zu unserem Leben, und eine pauschale Verteuflung von Fernsehen und Computerspielen ist nicht hilfreich.
Bildschirmzeit muss ausgewogen sein
Wie also kann die Bildschirmzeit für ein Kind „bemessen werden“? Vielleicht durch folgende Leitfragen:
- Klagt das Kind viel über Langeweile? – Wenn ja: Bildschirmzeit reduzieren. Bildschirmunterhaltung hilft nicht gegen Langeweile, sie betäubt die Ursachen.
- Hat das Kind Probleme, sich auch mal über längere Zeit allein zu beschäftigen? – Wenn ja: Bildschirmzeit reduzieren. Ausdauer fördern.
- Hat das Kind außerhalb von Kita oder Schule wenig Kontakt zu anderen Kindern? – Wenn ja: Bildschirmzeit reduzieren. Soziales Leben fördern.
- Zeigt das Kind Bewegungsfreude, z. B. beim Fahrradfahren oder Fußballspielen? – Wenn nein: Bildschirmzeit reduzieren. Bewegung fördern.
Kurz gesagt: Nicht die Zeit ist bei der Bildschirmnutzung entscheidend, sondern die Frage, von welchen wichtigen Entwicklungsaufgaben die Bildschirmmedien ein Kind abhalten. Kinder, die Bildschirmmedien konstruktiv in ihr Leben einbinden, und z. B. Bildschirminhalte von sich aus in ein Rollenspiel übertragen, zeigen weniger problematische Folgen der Bildschirmnutzung. Kinder, die sich begrenzen können und den Fernseher selbstständig ausstellen, haben ein gutes Gespür für Balance. – Das muss das Ziel sein. Und das ist zugegebenermaßen schwer zu erreichen.
Bildschirmzeit sollte keine Belohnung sein, und die Begrenzung von Bildschirmzeit keine Strafe. Kinder sollen lernen, eine innere Balance zu entwickeln. Hier können Checklisten helfen:
- Hast du dich heute schon bewegt?
- Hast du heute schon mit einem anderen Kind gespielt (Freundinnen/Freunde oder Geschwister)?
- Hast du heute schon etwas im Haushalt gemacht, z. B. das Bett geordnet, Spielzeug aufgeräumt, dein Frühstücksgeschirr abgeräumt, …?
- Hast du heute schon ein Bild gemalt, etwas gebaut oder in einem Buch gelesen?
Für all diese Dinge gilt: Die aktiv gestaltete Zeit darf nicht nur kurz sein oder einen Alibi-Charakter haben. Die Hauptaufgabe eines Kindes ist die Aktivität. Und wenn es einem Kind gelingt, ein aktives Leben zu führen, dann ist ergänzende Bildschirmzeit kein Problem und der Unterschied zwischen 30 und 45 Minuten spielt dann keine große Rolle.